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  | 09.12.2016

«Wir haben die moralisch-ethische Verpflichtung, eine Lösung zu suchen»

Die Theologin und Biologin Sibylle Ackermann Birbaum erklärt uns im Interview, was Ethik mit der Entsorgung von radioaktiven Abfällen zu tun hat und wie uns ethische Prinzipien helfen können, mit dem Thema verantwortungsvoll umzugehen.

Frau Ackermann, was ist Technik-Ethik?

Ethik fragt danach, was gutes oder böses, richtiges oder falsches, gerechtes oder ungerechtes Handeln ist. Im Bereich der Technik-Ethik ist die Grunderkenntnis wichtig, dass der Einsatz einer technische Errungenschaft immer sowohl Vor- als auch Nachteile mit sich bringt. Jede Nutzung von Technik ist risikobehaftet, sei es nun die Verwendung eines Haarföhns, der Einsatz eines Windgenerators oder die Nutzung der Technik der Tiefenlagerung radioaktiver Abfälle. Wir halten im Alltag zahlreiche Einsätze von Techniken für gut bzw. gerechtfertigt, obwohl auch ethische Bedenken bestehen – etwa Verletzungsgefahr für Mensch und Tier. Allgemein gesagt gilt der Einsatz einer Technik dann als gerechtfertigt, wenn die als «Nebenwirkungen» eintretenden Übel geringer sind als das entstehende «Übel» bei einem Verzicht auf diese Technik.

Wie können uns ethische Fragen helfen, mit dem Thema der Entsorgung radioaktiver Abfälle umzugehen?

In der Schweiz haben sich durch die Energiegewinnung in Kernkraftwerken und aus weiteren Quellen über Jahrzehnte radioaktive Abfälle angesammelt. Diese werden heute in einem Zwischenlager an der Erdoberfläche gelagert. Im Sinne des Verursacherprinzips liegt es in der Verantwortung der heute lebenden Generation, für diese die beste mögliche Lagerung zu erkunden und zu verwirklichen. Wir haben die moralisch-ethische Verpflichtung, eine Lösung zu suchen, welche die Gefahr der Schädigung von Mensch und Umwelt durch die radioaktive Strahlung so weit wie möglich minimiert. Dabei sind die Bedingungen dessen, was technisch machbar, und dessen, was rechtlich erlaubt ist, zu berücksichtigen.

Sibylle Ackermann Birbaum
«Es kann ethisch richtig sein, gegen den Willen der Leute vor Ort ein Lager zu bauen, wenn damit die Sicherheit von Mensch und Umwelt bestmöglich gewahrt ist.»

Welche ethischen Grundsätze gelten dabei beziehungsweise welche Grundsätze braucht es aus Ihrer Sicht für ein erfolgreiches Projekt?
Die übergeordneten ethischen «Leitplanken», an denen wir uns hier orientieren, sind die Prinzipien der Individual-, der Sozial- und der Umweltverträglichkeit. Sowohl die Entscheidung für einen bestimmten Lagertyp für die Abfälle als auch die Wahl des Standortes muss sich an diesen messen. Im Sinne der Schadensvermeidung für Mensch und Umwelt steht die Frage der Sicherheit an oberster Stelle. Nur ein möglichst sicheres Lager ist auch umwelt- und menschenverträglich. Um sagen zu können, dass man die Sicherheit für gewährleistet hält, ist zweierlei nötig. Zum einen geht es um die Sicherheit nach bestem Wissen. Hier geht es um Fragen der Bautechnik, der Kernphysik etc. Zum anderen geht es um die Gewährleistung der Sicherheit nach bestem Gewissen. Hier geht es um Fragen wie: Haben wir die Verantwortung genügend ernst genommen? Wurde entscheidungsoffen abgeklärt? etc. Erscheint die Sicherheit nach bestem Wissen und Gewissen als gewährleistet, sind weitere Fragen abzuklären. Dazu gehört die Zumutbarkeit eines bestimmten Standortes. Hierbei steht das in der Ethik stark gewichtete Selbstbestimmungsrecht in Konkurrenz zum wichtigen Prinzip der Sorge um das Gemeinwohl: Es kann ethisch richtig sein, gegen den Willen der Leute vor Ort ein Lager zu bauen, wenn damit die Sicherheit von Mensch und Umwelt bestmöglich gewahrt ist.

Inwieweit werden ethische Fragestellungen bei der Standortwahl für ein geologisches Tiefenlager berücksichtigt?
Wie ausgeführt, steht an allererster Stelle die Frage der technischen Sicherheit. Die Orientierung an den ethischen Prinzipien der Schadensvermeidung bzw. des Schutzes von Mensch und Umwelt durch radioaktiv verursachte Schädigungen fordern dies. Die Ethik stellt aber auch kritische Fragen zum Prozess der Lösungsfindung. Aufgrund welcher Kriterien soll entscheiden werden, wann das Abklärungsergebnis als «sicher genug» gilt? Um unnötige Gefährdungen zu vermeiden, sind umfassende Sicherheitsforschungen angezeigt. Gleichzeitig soll die Lösung zum frühesten geeigneten Zeitpunkt umgesetzt werden. Es wäre verantwortungslos, die Abfälle länger als nötig im Zwischenlager zu lassen, das aufgrund seiner Lage an der Erdoberfläche mit Sicherheitsrisiken verbunden ist.

Gibt es unterschiedliche ethische Ansichten bezüglich gesellschaftlicher Akzeptanz, Verantwortung oder nachhaltiges Handeln?
In unserer Gesellschaft leben Menschen zusammen, die sich an unterschiedlichen Welt- und Menschenbildern orientieren und unterschiedliche Werte für wichtig erachten. Den einen ist eine möglichst grosse Handlungsfreiheit und Selbstbestimmung besonders wichtig. Andere orientieren sich an der Vorstellung der Mitgeschöpflichkeit und wägen bei ihren Entscheidungen die Folgen für die Mitmenschen und die Umwelt intensiv ab. Wieder andere stellen Fragen der Gerechtigkeit und der Ehrlichkeit ins Zentrum. Diese persönlichen Überzeugungen, Werte und Wertungen prägen die Entscheidung des einzelnen. Darauf stützt er sein Urteil ab, ob er den Bau eines Tiefenlagers in einer bestimmten Region und zu einem bestimmten Zeitpunkt als richtig und verantwortbar einstuft.


Sibylle Ackermann Birbaum
Die Biologin und Theologin arbeite im Bereich Ethik für die Akademien der Wissenschaften Schweiz und ist seit 2009 Mitglied des Beirates «Entsorgung radioaktiver Abfälle» des Bundes.

Frau Ackermann zieht in einem Interview mit dem BFE Fazit über ihre Tätigkeit im Beirat.

Kommentare(1)

  1. Ich glaube, dass wenn wir den radioaktiven Abfall an der Erdoberfläche lagern, es ein massiv hohes Risiko darstellt. Ich hatte vor 40 Jahren,Ja gesagt hat zu Atomstrom. Heute habe ich eine andere Meinung hierzu. Ich finde, der Opalinuston wird für mehrer Hunderttausend Jahre eine gute Sicherheit bieten können. Lagern die Abfälle für einmal in der Tiefe, können sie nicht von jedem Fanatiker entwendet werden. Diese Gefahr schätze hoch ein. Siehe USA.

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